
Eigentlich wollte ich ja gar nicht nach Chicago oder in irgendeine amerikanische Grossstadt. Ich mag Städte nicht. Graue Betonriesen soweit das Auge reicht, Menschenmassen, Enge, Lärm, Gestank, Hektik…. alles Dinge, die mich unweigerlich die Flucht ergreifen lassen. Im Nachhinein bin ich jedoch tatsächlich dankbar dafür, quasi dazu erpresst worden zu sein, diese herrliche Stadt zu besuchen.
Im Mai 2016 war es dann soweit. Auf unserer diesjährigen US-Reise legten wir einen 2-tägigen Stopp in Chicago, der Wind City, ein. Pünktlich landeten wir auf dem Chicago O’Hare International Airport, liessen das übliche Immigration-Prozedere über uns ergehen und befanden uns kurz darauf im Silversmith Hotel Chicago Downtown. Dies, obwohl uns der Taxifahrer einige Blocks vor unserem Hotel rauswerfen musste, da wegen diverser Memorial-Day-Aktivitäten die Strassen rund um unser Hotel abgesperrt waren und wir den Rest des Weges zu Fuss und mithilfe des TripWolf-Navis zurücklegen mussten.
Wäre ich nicht bereits so müde gewesen, hätte ich den Trip sogar geniessen können. Auf einer Querstrasse auf dem Weg zum Hotel waren an die 60 Harleys aufgereiht, bereit für eine gleich stattfindende Parade. Auf einer provisorisch aufgestellten Bühne (welche doch tatsächlich 1 Stunde später wieder verschwunden war) sang jemand inbrünstig die Landeshymne, während einige Passanten mit der rechten Hand auf der Brust und geschlossenen Augen andächtig lauschten. Ich war aber zu faul und zu entnervt, um meine Kamera hervorzukramen und Fotos zu schiessen. Ich wollte jetzt einfach nur noch ins Hotel und suchte verzweifelt einen Weg durch die Menschenmenge und die wunderschönen Motorräder hindurch. Nach einigen Umwegen standen wir dann plötzlich vor unserem Hotel und freuten uns, dass wir schon vor der offiziellen Check-In-Time unser Zimmer beziehen konnten. Dieses befand sich zwar nur im vierten Stock und gleich über der Hochbahn, welche direkt unter unserem Zimmer durchfuhr, konnte aber ein schönes Design, gemütliches Ambiente und ein herrlich bequemes Bett vorweisen. Wir konnten hier nicht mit einer grossartigen Aussicht rechnen, dafür aber mit einigem Lärm. Tatsächlich hat uns die Bahn aber überhaupt nicht gestört. Man hörte sie zwar unten vorbei rumpeln, aber das hat uns später nicht vom Schlafen abgehalten.
Erstmal war der Tag aber noch nicht vorbei, und nach einer kurzen Verschnaufpause haben wir uns nochmal rausgewagt ins Memorial-Day-Getümmel. Eigentlich wollten wir schon mal ein bisschen Sightseeing erledigen und unseren stetig wachsenden Hunger stillen. Alle Strassen waren wieder frei, alle Bühnen und sonstigen Aufbauten waren verschwunden, alles wieder normal. Und trotzdem mochte ich keinen Schritt mehr gehen. Chicago mit seinen zugegebenermassen gewaltigen Attraktionen musste noch eine Weile auf unsere Aufmerksamkeit warten. Müde schleppten wir uns in den nächsten Walgreens, wo wir uns mit Sushi, Sandwiches, Früchten und Getränken eindeckten. Es gibt in Chicago eindeutig schickere und schmackhaftere Möglichkeiten, sich zu ernähren. Aber dafür blieb heute einfach keine Zeit. Wir drohten im Stehen einzuschlafen. Mit unserem Einkauf unterm Arm verdrückten wir uns in unser Zimmer, vertilgten unser recht frühes Abendessen und fielen völlig erschöpft in die Federn.
Bis um 5 Uhr früh hielten wir es mit viel Anstrengung im Bett aus, frühstückten, was vom Abendessen übriggeblieben war und standen unternehmungslustig und neugierig bereits um 07.00 Uhr auf der Strasse, bereit für eine erste ausgiebige Erkundung dieser faszinierenden Stadt. Jetzt traute ich mich auch zum ersten Mal in die Höhe zu schauen und mir wurde prompt schwindlig. Man muss den Kopf komplett in den Nacken legen, um bis ganz nach oben blicken zu können. In dieser Haltung weiterzugehen, war unmöglich. Also blieben wir stehen, hielten uns an einer Strassenlaterne fest und bestaunten die schwindelerregenden Wolkenkratzer.
Es war angenehm warm, trotz des ständig wehenden Windes, und so zogen wir los zum nur fünf Gehminuten entfernten Millennium Park, wo mich vor allem die „Bohne“ in ihren Bann zog. Eigentlich heisst das Ding ja offiziell Cloud Gate aber alle Welt nennt es nur „the bean“. Ich bin ja ein ziemlicher Kunstbanause und kann mit so modernem Zeugs eigentlich so gar nichts anfangen, aber dieses glatte, glänzende, alles widerspiegelnde seltsame Gebilde vor der Chicagoer Skyline strahlt so eine natürliche Schönheit aus, dass ich gar nicht mehr wegschauen konnte. Perfekt geformt schmeichelt das Wolkentor dem Auge und der darübergleitenden Hand. Ich hätte stundenlang hier verweilen können. Es macht Spass, um die Bohne herumzugehen und immer wieder neue Ansichten und Spiegelungen zu entdecken. Es ist auch herrlich, die Begeisterung und das Staunen in den Augen aller anderen Besucher zu sehen. Die Bohne verzaubert einfach jeden.
Wie ein riesiger aufgeblähter Wassertropfen liegt sie da und erscheint von der Seite durch Bäume und Büsche gesehen völlig unwirklich.
Nur schweren Herzens konnte ich mich losreissen von diesem während einiger Jahre erbauten und erst sehr ungeliebten Glanzstück eines britischen Architekten.
Wir spazierten dann weiter durch den auch sonst sehr schönen Millennium Park Richtung Lake Shore Drive, wo heute alles per Fahrrad unterwegs war. Hier genehmigte sich mein Göttergatte seinen ersten Hot Dog, ganz banal bloss mit Ketchup garniert, wo doch Chicago berühmt ist für seine Chicago Style Hot Dogs mit diversen Toppings und ausgerechnet Ketchup komplett verachtet. Ich hatte so früh noch keinen Appetit und gönnte mir daher einen leckeren Grüntee mit viel frischem Ingwer. Scharf, süss und sehr erfrischend.
Der Lake Shore Drive ist eine mehrere Spuren breite Strasse, die sich zwischen der Stadt und dem Seeufer entlang windet. Da heute nur Fahrräder unterwegs waren, kam sie uns sehr beschaulich und sicher vor. Am nächsten Tag aber wurden wir von der kriminellen Realität Chicagos eingeholt. In den TV-News mussten wir erfahren, dass in der vergangenen Nacht auf demselben friedlichen Lake Shore Drive eine Person ums Leben gekommen war. Ein Pärchen auf dem Nachhauseweg ist von irgendwelchen Gaunern attackiert und überfallen worden. Sie konnten sich jedoch von den bewaffneten Übeltätern losreissen und wollten über den Lake Shore Drive flüchten, wo sie von einem Wagen überfahren wurden. Sie starb, er kam schwerverletzt ins Krankenhaus. Sowas soll ja in Chicago Alltag sein. Immerhin galt Chicago lange Zeit als die gefährlichste Stadt der Vereinigten Staaten. Mich schockierte dieses andere dunkle Gesicht von Chicago jedoch sehr. Ich wollte auf keinen Fall mehr zu später Stunde in den falschen Teilen der Stadt unterwegs sein. Bloss welche sind das denn? Bei Tageslicht betrachtet, schien es mir überall sicher, freundlich und willkommen heissend. Da wir eh noch zu keinerlei Nachtleben fähig waren dank des böse an uns nagenden Jet-Lags, musste ich mir ja diesbezüglich keine Sorgen machen, aber dennoch würde ich jedem raten, bei Dunkelheit egal wo in Chicago nicht zu Fuss unterwegs zu sein.
Für uns ging’s an diesem Tag aber weiter zum Willis Tower (vormals Sears Tower). Da wollten wir rauf, um die tolle Aussicht zu geniessen, und um mal auf so einem Wolkenkratzer gewesen zu sein. Naja, also eigentlich wollte nur ich da rauf, denn mein Gatte leidet unter Höhenangst und erfand so einige Ausreden, um nicht da hinauf zu müssen. Auf einmal hatte er Herzprobleme, Atemnot, Kreislaufprobleme, ach natürlich Hunger und noch so einige andere lebensgefährliche Gebrechen. Ich erklärte ihm, dass ich da schon alleine rauf fahren könne, aber dass es natürlich eine Schande wäre, wenn er hier in Chicago vor diesem Ungetüm stünde und nicht auch tatsächlich oben gewesen wäre. Was würden denn nur all seine Freunde von ihm denken?
Und los ging’s mit erstmal 1 1/2 Stunden Wartezeit bis wir endlich in den Lift durften. Oben angekommen war alle Mühsal aber sofort vergessen. Wir wurden mit einer fantastischen Aussicht belohnt, welche sogar mein Herzblatt seine Höhenangst komplett vergessen liess. Das oberste Stockwerk ist nach allen Seiten verglast, sodass man wirklich ungehinderte Sicht in alle vier Himmelsrichtungen geniesst. Und was einem da geboten wird, ist ohne zu übertreiben einfach atemberaubend. Man thront hoch über dieser immensen Stadt und wird sich erst hier richtig bewusst, wie riesig sie ist. Ich konnte sogar auf vorbeifliegende Flugzeuge hinabsehen, so hoch oben befand ich mich. Unglaublich. Wieder konnte ich nicht genug bekommen von all den wundervollen und immer wieder neuen Ansichten, die sich mir auf meinem Rundgang entlang der Fensterfronten boten. Auf die Sky Ledges, eine Art Glasbalkone (im oberen Bild gut erkennbar), sind wir aber dann doch nicht raus, weil das wieder mindestens eine Stunde Wartezeit bedeutet hätte.
Ich wäre ja schon gerne da hineingestiegen, um mich einmal zu fühlen, als stünde ich mitten in der Luft über dieser grandiosen Stadt, und ich hätte auch gerne ein Foto von mir gehabt, wie ich da cool über der City schwebe, aber es war so voll hier oben mit nervend lauten Touristen und ihren schlecht erzogenen Nachkommen, dass wir bald wieder die Flucht nach unten ergriffen haben, allerdings nicht ohne im Fudge-Shop noch schnell zugeschlagen zu haben. Da gab’s alle möglichen noch nie gehörten Sorten, die mich aber alle so verführerisch anblinzelten, sodass ich schlicht nicht widerstehen konnte und trotz der horrenden Preise hier oben von fast jeder Geschmacksrichtung ein Pröbchen erwerben musste.
Heil wieder unten angekommen, musste erst mal der Hunger meines mutigen Helden gestillt werden. Als Belohnung für seinen herausragenden Mut wollte ich ihm indische Leckereien gönnen und suchte via Yelp das nächste indische Restaurant. Mughal India war 9 Minuten entfernt und wurde sofort angesteuert. Wir hatten beide Hunger und so assen wir halt, was auf den Tisch kam. Aber ehrlich… so schlechtes Essen ist mir noch nirgendwo vorgesetzt worden. Finger weg von diesem Restaurant. Meine Shrimps in Coconutcream waren in Béchamelsauce ertränkte Garnelen. Widerlich und nicht mal im Ansatz irgendwie indisch… Gerne hätte ich mal eines der italienischen Restaurants hier ausprobiert. Es soll hier die besten der Welt geben. Und übrigens rühmt sich Chicago als Geburtsstätte der Deep Dish Pizza, einer Mischung aus traditioneller Pizza und Quiche. Aber Herr Barua mag italienisch nicht…
Eigentlich waren wir bereits wieder reif fürs Bett aber es war ja gerade mal früher Nachmittag, und so setzten wir unsere Sightseeing-Tour fort. Ich mochte nicht mehr laufen, weil meine Füsse schon ganz wund waren. Wir leisteten uns also ein Wassertaxi zum Navy Pier, was sich als eine geniale Idee erwies. Die Tour war wunderschön und bequem. Vom Wasser aus hat man einen ganz anderen und noch besseren Blick auf die spezielle Architektur der Chicagoer Wolkenkratzer. Gemütlich schipperten wir auf dem Chicago River entlang, genossen das herrliche Wetter und bestaunten die fantastischen Bauten, die sich pompös und überwältigend vor uns auftürmten. Für Architektur-Interessierte ist Chicago tatsächlich ein Paradies. Es gibt sogar spezielle Architektur-Führungen. Wir haben darauf verzichtet, da wir nicht wirklich mehr wissen sondern einfach nur geniessen wollten.
Am Navy Pier angekommen, der dann wieder nichts spezielles bietet, gönnten wir uns ein paar kühle Erfrischungen und unseren Füssen noch mehr Erholung, denn nun war der Tag noch immer nicht zu Ende…. Wir watschelten weiter vom Navy Pier entlang des Lake Michigan mit seinem überraschenden City-Beach
zum Stadtrand und weiter zur berühmte Shopping-Meile Magnificent Mile. Für ausgiebiges Shopping hatte ich aber keinen Nerv mehr und vor allem nicht die richtigen Füsse oder Schuhe dabei. Meine armen Treter waren bereits wieder mit riesigen Blasen übersäht. Also gab’s für mich heute lediglich ein paar Flip-Flops, die meine Blasen beim Gehen weitestgehend in Ruhe liessen.
Den zweiten Tag in Chicago wollten wir etwas gemütlicher angehen lassen, da der gestrige Tag so überladen war mit neuen und umwerfenden Eindrücken. Wir sind die Magnificent Mile rauf und runter spaziert und haben uns ganz dem Shopping-Vergnügen hingegeben. Hier gibt’s einfach alles, was das Shoppingherz begehrt. Man kann wie in Europa von einem Shop zum nächsten schlendern oder sich in einer der Malls verlieren, ganz amerikanisch halt. Gegen Mittag hatten wir dann aber genug vom Shopping-Rausch und sind zum Chicago River marschiert. Der Fluss schlängelt sich mitten durch das Stadtzentrum mit seinen spektakulären Hochhausschluchten und lässt sich prima auch vom Chicago River Walk aus erkunden. Wir sind also ein Stück der Strecke, welche wir gestern per Boot zurückgelegt hatten, zu Fuss auf dem River Walk gegangen.
Schicke Yachten tuckern gemütlich auf dem Wasser umher, die Herren der Schöpfung am Steuer, ihre Frauen im Bikini auf dem Bug die Sonne anbetend. Man muss ja zeigen was man hat. Das Publikum in den vielen Cafés und Weinbars entlang des River Walks geniesst derweil das gebotene Schauspiel bei lecker Speis und Trank und geschützt vor der schon Ende Mai heiss vom Himmel brennenden Sonne unter bunten Sonnenschirmen. Hier herrscht jeden Tag Urlaubsstimmung. Wir liessen uns gerne anstecken und genossen in einer Weinbar mit giftgrünen Sonnenschirmen leckere Buffalo Wings mit Blue Cheese Dip und Karotten- und Sellerie-Sticks. Ein Gläschen Wein rundete den Genuss perfekt ab. Einfach herrlich.
Chicago ist irgendwie cool. Und die Menschen hier sind locker drauf und sehr sehr freundlich. Ich meine damit aber nicht diese typische amerikanische um Trinkgeld bettelnde Freundlichkeit. Die Menschen hier sind stolz auf ihre Stadt und zeigen jedem gerne, was sie sich hier aufgebaut haben. Und ihnen liegt viel daran, dass es dem Gast hier gut geht und er ebenfalls Gefallen an ihrer City findet. Sie freuen sich über jedes entgegengebrachte Interesse, geben gerne auch zum hundertsten Mal Auskunft und sind äusserst hilfsbereit. Fast schade, dass unser kurzer Stopp in Chicago schon bald zu Ende war.
Obwohl ich eigentlich gerne noch andere Stadtteile mit deren speziellen Restaurants und Imbissbuden erkundet hätte, blieb dafür leider keine Zeit mehr. Am nächsten Tag ging es weiter nach Seattle in Washington State. Und trotz meiner Begeisterung für diese Stadt war ich doch froh bald den faszinierenden Naturwundern Amerikas wieder näher zu kommen. Aber ich behalte Chicago im Hinterkopf für einen hoffentlich baldigen nächsten Stop-Over.
Ich hätte da noch einen kleinen Tipp für alle, welche etwas sparen möchten. US-Städte sind ja mittlerweile wirklich horrend teuer geworden. Also: Auf der Hinreise waren wir zu faul, um nach einer Alternative zu suchen und haben uns deshalb halt bequem wie wir sind ein Taxi geschnappt für die Strecke vom Flughafen zum Hotel, was mit 90 US$ (inkl. Trinkgeld) ganz schön zu Buche schlug. Auf dem Rückweg zum Flughafen wollten wir jetzt die U-Bahn ausprobieren und somit gleich 80 US$ sparen. Die diensthabende Receptionistin in unserem Hotel hat uns alles genauestens erklärt und uns auch den Weg zur nächsten bloss etwa 300m entfernten U-Bahn-Station gewiesen. Die Blue Line fährt nämlich von da direkt zum Flughafen in etwa 40 Minuten mit je einer Haltestelle in den jeweiligen Terminals. Einfach genial und für 5 US$ pro Person auch noch spottbillig. Und man kriegt dann auch noch was von den dann doch etwas ärmeren und heruntergekommenen Vierteln zwischen Downtown und Airport zu sehen, denn die U-Bahn-Strecke der Blue Line verläuft nicht nur unterirdisch sondern über weite Strecken sogar einige Stockwerke über dem Strassenniveau zwischen den alten Backsteingemäuern hindurch und gibt Blicke auf das ansonsten versteckte Treiben in Chicagos Hinterhöfen frei. Hier hat man dann schnell wieder das Gefühl, direkt in das alte schmutzige und kriminelle Antlitz der Stadt zu schauen…
Obwohl ich Grossstädte nicht unbedingt liebe und nie in einer leben möchte, packt mich bei diesen fantastischen Bildern und sehr interessanten Reisebericht auf der Stelle eine irrsinnige Reiselust.
Ich hoffe, es gibt bald mehr !!!Maria
Nein, leben möchte ich auch nie in einer Grossstadt, aber als Besucher die Vorteile geniessen und dann schnell wieder abhauen, sobald die Nachteile überhand nehmen, macht grossen Spass!!!
Liebi Grüessli
Eva